Imaginingthe Balkans von Maria Todorova  OxfordUniversity Press, 1997 (257 S)
  Kulturrisse März 98

 

Ein Buch, das mit den Vorurteilen gegen den Balkan aufräumenwill, kann kaum ein besseres Publikum finden als das in einer mitteleuropäischenMetropole, für welche sich Wien heute noch immer hält.

Hier, wo der Balkan am nähesten liegt, scheint gleichzeitigseine Wahrheit am weitesten entfernt zu sein. Das ist aber kein Paradoxon,denn was wäre der prachtvolle mitteleuropäische Glanz ohne seinendunklen balkanischen Hintergrund?

Und dieser Balkan, stellt Todorova fest, obwohl geographisch untrennbarvon Europa, wurde kulturell als sein Anderes konstruiert, als "thedark side within". Im englischen Text des Buches taucht immer wiederein kursiv hervorgehobenes deutsches Wort auf:Schimpfwort.Todorovas Buch erzählt uns, wie der gegenwärtige Balkanbegriffaus dem Geist des Schimpfwortes entstanden ist.

Der Balkan fing erst am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts an, alsetwas Böses zu gelten: mit den politischen Morden wie jenen von Aleksandarund Draga Obrenovic in Serbien (1903), die die westliche Öffentlichkeitals spezifisch slawische Gewalttat (defenestration) erschütterten undunter britischen und österreich-ungarischen Royalisten als besondersabscheulich empfunden wurden; mit den zwei blutigen balkanischen Kriegen,1912 und 1913 (genocid & fratricid), und dann wiedermit dem Attentat in Sarajevo und dem ihm folgenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Aus allen diesen konkreten politischen und historischen Ereignissenwurde in den damaligen Medien ein Bild vom Balkan geprägt, das bisheute gilt: das gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben am Balkanentspricht einfach nicht den Standards der sogenannten zivilisierten Welt.Der Balkan ist barbarisch, primitiv, gewalttätig, unstabil, unvoraussehbar,regressiv, rückständig usw., was Europa natürlich nie warund nie werden könnte.

Mit welcher Naivität die damalige europäische belleépoque die kriegerischen Ereignissen am Balkan erlebt hat,illustriert Todorova mit den Worten einer publizistischen Zeugin der Balkankriegen,kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: "War is so obscene, sodegrading (...) that it is quite impossible there can ever be a War in WestEurope."(Mary E. Durham)

In ihrer Analyse des europäischen Balkanbildes bedient sichMaria Todorova einer Fülle von dokumentarischem Material. JournalistischeQuellen werden genauso fruchtbar benützt wie die europäische Belletristikund akademische Studien. Egal ob es sich einen Reisebericht oder ein diplomatischesDokument handelt, sie findet mit leidenschaftlichem Engagement die eindrucksvollstenBelege für ihre Thesen.

"Imagining the Balkans" ist kein trockener akademisch-wissenchaftlicherText. Gepackt von der scharfsinnigen Ironie der Autorin, ihrer erzählerischenGeschicklichkeit und einer durchdringenden pamphletistischen Kraft, neigtder Leser dazu, noch einem Balkanstereotyp zu verfallen: dem berühmtenbalkanischen Charme, der angeblich jeden Europäer unwiderstehlich wirkt.

Wesentlich ist aber vor allem der Anspruch dieses Buches, den heutzutagenur wenige wissenschaftliche Arbeiten teilen: Mit seinen Erkenntnissen fordertdas Buch praktische Konsequenzen.

Nirgendwo kommt das so offen zum Vorschein wie in der StellungnahmeTodorovas zu den, wie sie sagt, "jugoslawischen Erbfolgekriegen"(Wars of Yugoslav Succession). Gemeint ist der noch immer aktuelle kriegerischeZerfall Jugoslawiens. Die Autorin widerspricht vehement dem geläufigenArgument, diese Kriege seien die Folge einer eingeborenen balkanischen Kriegs-und Gewaltneigung ("these people have been fighting each other forhundreds of years"). Es ist die endgültige Europäisierungder Halbinsel, die in erster Linie für diese Kriege - so Todorova -verantwortlich gemacht werden muß.

Die Gründung eines ethnisch homogenisierten Staates ist keineexklusiv balkanische Idee. Es waren nämlich gerade die Europäer,die anläßlich der balkanischen Multikulturalität von dem"handicap der heterogenität" gesprochen haben (und die jetztdas tragische Schicksal des geteilten Bosnien und des zerstörten Sarajevobeweinen). Erst die amerikanische Vorherrschaft in der internationalen Politikmit dem "Dayton agreement" ließ einen multikulturellen Staatin Bosnien einigermaßen realistisch erscheinen.

Zur Frage von Todorovas wissenschaftsmethodologischer Position seinur angemerkt, daß sie sich klar und eindeutig von der Idee, der Balkansei nur ein spezifischer Fall vom "Orientalismus", abgrenzt.

"Hätte der Balkan nicht existiert, man hätte ihn erfindenmüssen", schrieb 1928 Graf Hermann Keyserling. Bis zum heutigenTag nämlich diente der Balkan Europa als eine Art Verwahrungsort fürall jene negativen Eigenschaften, gegenüber welchen es sein positives,selbstgefälliges "European image" konstruieren konnte. Nichtsentlastet das heutige Europa von seinem schlechten geschichtlichen Gewissenso sehr wie der böse Balkan. So schrieb Robert Kaplan in BalkanGhosts (1993): "Der Nazismus zum Beispiel könnte sehrwohl balkanischen Wurzeln haben. In den Wiener Männerwohnheimen, einerder südslawischen Welt nahen Brutstätte der ethnischen Ressentiments,hat Hitler gelernt, wie man so ansteckend hassen kann."

Europa hat nicht nur den Rassismus geschaffen, sondern auch einenAntirassismus, nicht nur die Mysoginie, sondern auch den Feminismus, nichtnur den Antisemitismus, sondern auch seine Bekämpfung. Wann aber wirddieses Europa seinem eigenen Balkanismus einen Antipoden entgegensetzen?Das ist die Frage, die Todorova den Lesern offen ließ.